Hochlauf der Wasserstoff-Wirtschaft in Mitteldeutschland
Rund 30 bis 50 Prozent des deutschen Wasserstoff-Bedarfs soll nach dem Willen der Bundesregierung bis zum Jahr 2030 mit grünem Wasserstoff (H2) gedeckt werden. Dieser gilt als besonders umweltschonend, denn zur Herstellung werden erneuerbare Energien verwendet. Bei der Erzeugung entweichen keine Treibhausgase, der Wasserstoff ist also CO2-frei und gilt deshalb als grün und klimaneutral. Zur Produktion kommt die sogenannte "Power-to-Gas"-Technologie zum Einsatz. Mit "Strom zu Gas" ist gemeint, dass in einem Elektrolyse-Verfahren Wassermoleküle mit Hilfe elektrischen Stroms „aufgebrochen“ werden, um den Wasserstoff H2 zu extrahieren.
Was zur Erreichung des Ziels bislang jedoch fehlt, sind genügend Elektrolyseure. Deshalb hat der Bund ambitionierte Vorgaben gemacht: Zehn Gigawatt Elektrolyse-Kapazität will Deutschland nach Angaben des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) bis 2030 aufbauen. Im Februar dieses Jahres lag jedoch einem Bericht des „Tagesspiegel“ zufolge die tatsächlich installierte Leistung hierzulande erst bei 66 Megawatt. Um diese große Lücke zu schließen unternimmt die Industrie enorme Anstrengungen. Eine Vorreiterrolle hierbei spielen die beiden Verteilnetzbetreiber MITNETZ STROM und MITNETZ GAS.
Erheblicher Zuwachs von Erneuerbaren Energien – Potential kann nicht vollständig genutzt werden
Bereits seit Jahren findet im Netz der MITNETZ STROM starker Zuwachs an Einspeiseanlagen statt, wie Dirk Sattur ausführt: „Im März wurde in Mittelsachsen die 111.111-te EE-Anlage in unserem Netzgebiet angeschlossen – ein echter Meilenstein. Aktuell sind wir aber schon wieder mehrere tausend Anlagen weiter. Deutlich mehr als elf Gigawatt Erzeugungsleistung aus Erneuerbaren Energien sind heute bei uns im Netz installiert. Photovoltaik hat dabei mittlerweile Windenergie den Rang abgelaufen und stellt über 50 Prozent der installierten Leistung aus EE-Anlagen in unserem Netzgebiet. Aber auch auch Windkraft wird nach wie vor auf hohem Niveau eingespeist. Mit anderen Worten: Öko-Strom ist in Mitteldeutschland im Überfluss vorhanden.“
Doch das Potential kann häufig nicht vollständig genutzt werden, denn oft gibt es mehr Stromangeot als Stromnachfrage. Dies gilt insbesondere an sonnigen und windreichen Tagen. Die Folge: entweder muss der überschüssige Strom ins vorgelagerte Übertragungsnetz (Höchstspannungsnetz) zurück gespeist werden. Wenn dies nicht möglich ist, greifen so genannte Redispatch-Maßnahmen. Hierbei wird in die Erzeugungsleistung von Kraftwerken eingegriffen, um das Stromnetz vor einer Überlastung zu schützen.. Diese greifen auch, wenn trotz des massiven Netzausbaus seitens MITNETZ STROM Netzengpässe drohen.
„MITNETZ STROM musste allein letztes Jahr im Rahmen gut 1.100 Mal die Einspeisung erneuerbarer Energien ins Stromnetz zeitweise abregeln lassen. Bei diesen Maßnahmen wurden etwa 400 Gigawattstunden (GWh) reduziert. Das entspricht etwa 25 Prozent des jährlichen Energiebedarfs einer mittelgroßen Großstadt. An 310 Tagen – also beinahe täglich – wurde zudem an den vorgelagerten Netzbetreiber zurückgespeist“, berichtet Sattur.
Aufbau von Elektrolyse-Kapazitäten ist dringliche Aufgabe
„Diesen Strom stattdessen für die Erzeugung von grünem Wasserstoff zu nutzen – das würde die Energiewende einen großen Schritt voranbringen“, erklärt Dirk Sattur. „Theoretisch ließen sich damit sogar die Rückspeisung sowie Redisptaching-Maßnahmen komplett vermeiden“. Zudem habe die Energieversorgung mit Grünem Gas den Vorteil, dass sich Wasserstoff im Gegensatz zu Strom leicht speichern lasse – etwa im ehemaligen Salzstock in Bad Lauchstädt nahe Halle. Die Kaverne soll nach ihrem Umbau über ein Speichervolumen von etwa 3.800 Tonnen Wasserstoff verfügen, was in etwa dem Jahresstromverbrauch von 40.000 Zwei-Personen-Haushalten entspricht.
Der Aufbau von entsprechenden Elektrolyse-Kapazitäten sei deshalb eines der dringlichsten Themen und werde von der enviaM-Gruppe mit hoher Priorität behandelt. „Ziel ist, dass vor Ort, dort wo die industriellen Abnehmer angesiedelt sind, lokale Elektrolyseure errichtet werden, die sich dann genauso einfach an unser Netz anschließen können, wie zum Beispiel Biogasanlagen-Betreiber“, erläutert Sattur. Derzeit beteiligen sich MITNETZ GAS und enviaTHERM, ebenfalls ein Unternehmen der enviaM-Gruppe, an einem Projektkonsortium namens „Green Bridge“, bei dem auch Firmen wie BMW, Porsche, DHL, LEAG, Total-Energies, Verbio, Nobian und der Flughafen Leipzig-Halle engagiert sind.
Namhafte Unternehmen setzen auf Wasserstoff
Die Basis ist ein 75 Kilometer langes Inselnetz von MITNETZ GAS, an dem die Partner angeschlossen sind. Diese bestehende Erdgasleitung soll künftig H2-ready sein und grünen Wasserstoff transportieren. „Bislang haben wir mit Nobian, LEAG und envia THERM drei regionale Erzeuger in das Netz eingebunden, die mit ihren Elektrolyseuren im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen eine Gesamtkapazität von ungefähr 77 Megawatt bereitstellen können“, erklärt Anna Schwert, Projektleiterin bei MITNETZ GAS. „Green Bridge“ ist dabei die erste geschlossene H2-Wertschöpfungskette, denn der grüne Wasserstoff wird nicht nur produziert, sondern soll bei anderen Mitgliedern des Konsortiums zukünftig auch verbraucht werden.
Der Flughafen Leipzig-Halle möchte daraus Wärme gewinnen und ihn nutzt als Kraftstoff für seine Fahrzeuge nutzen. Bei DHL ist geplant, die Logistik wasserstoffbasiert zu gestakten, Total plant eine Wasserstoff-Tankstelle und Verbio will daraus Synthetic Fuels (grüne Kraftstoffe) produzieren. „Porsche plant eine Lackiererei, bei der grüner Wasserstoff zum Einsatz kommen soll. BMW nutzt bereits heute für die Intralogistik in seinem Werk hunderte Fahrzeuge, die zu 100 Prozent mit Wasserstoff fahren, und hat dafür extra eine Pipeline durchs Werk verlegt“, so Schwert. „Der Vorteil bezüglich verschiedener klimafreundlicher Mobilitätsalternativen liegt auf der Hand: mittels Wasserstoff ist ein sehr schnelles Betanken möglich, während das Laden eines Elektrofahrzeugs einige Zeit dauert. “. „Herausfordernd ist die Abstimmung der einzelnen Verbraucher – so benötigt BMW den Wasserstoff vorwiegend am Tag und DHL vor allem in der Nacht“, meint die Projektleiterin und ergänzt: „Unterm Strich zeigt Green Bridge aber, dass sowohl Kunden als auch Erzeuger von einer wasserstoffbasierten Energieversorgung profitieren können.“
Erdgas-Verteilnetz der MITNETZ GAS ist H2-ready
Mit Blick auf Alltagstauglichkeit und allgemeine Verfügbarkeit des Energieträgers stellt sich jedoch die Frage, inwieweit das bestehende Erdgasnetz für die Durchleitung von Wasserstoff genutzt werden kann. Hier zeigt sich Schwert optimistisch: „Eine Studie des Deutschen Brennstoffzellen-Instituts aus Leipzig, einer unabhängigen Unternehmensgruppe des DVGW, hat ergeben, dass unsere Verteilnetze zu 100 Prozent H2-ready sind. Es besteht lediglich Anpassungsbedarf im Bereich der Messtechnik, deren Austausch kann jedoch im Rahmen der planmäßigen Erneuerung erfolgen“, versichert sie. Der Grund liege vor allem im relativ jungen Erdgasnetz in Mitteldeutschland. „Hier ist vieles seit der Wende erneuert worden, Stahl wurde durch Kunststoff substituiert. Auch an die Versorgungssicherheit im Inselnetz wurde gedacht, wie Dirk Sattur ausführt: „Wir treffen Vorkehrungen für den sicheren Betrieb eines solchen Inselbetriebs. Dazu gehört der Betrieb einer Hochdruckleitung und das Fahren mit einem höheren Druckniveau sowie das Errichten einer Trailerstation für die Zuführung von externem Wasserstoff.“
Energiezukunft wird im Wasserstoffdorf erprobt
Wie ein reales Wasserstoffnetz in Zukunft aussehen könnte, erprobt MITNETZ GAS bereits seit einiger Zeit im so genannten „Wasserstoffdorf“, einem Versuchsfeld mit einer Gesamtfläche von 12.000 Quadratmetern im Chemiepark Bitterfeld-Wolfen in Sachsen-Anhalt, wo unter Realbedingungen vielfältige wichtige und praxisbezogene Erfahrungswerte bei Transport, Verteilung und Anwendung von Wasserstoff wissenschaftlich bewertet und weiterentwickelt werden. „2016 wurde das Konzept vorgestellt, 2019 war die Eröffnung und 2022 haben wir den Innovationspreis der deutschen Gaswirtschaft in der Kategorie Anwendungsorientierte Forschung erhalten“, zählt Schwert die Meilensteine auf.
Zunächst wurde seit 2018 in dem Projekt „HYPOS: H2-Netz“ eine Verteilnetzstruktur entwickelt, die Anlagen errichtet und die Anbindung und Versorgung von Wasserstoffendverbrauchern untersucht. So wurden hochdichte Kunststoffrohrleitungen im Verteilnetz und in der Inneninstallation erprobt und Wechselwirkungen von verschiedenen Geruchsstoffen für das Gasnetz untersucht. Auch neue Materialien sowie verschiedene Verlege-Verfahren wie etwa die kabellose Verlegung oder das Spülbohrverfahren wurden erprobt und die erforderliche Sicherheitstechnik definiert. „Dabei konnten wir wichtige Erkenntnisse für die Entwicklung eines zukunftsfähigen Gasnetzes gewinnen“, blickt die Expertin zurück.
Kernaufgabe ist, Strom- und Gasnetz zusammenzubringen
Seit Anfang 2022 läuft das vom Bundeswirtschaftsministerium (BMWi) geförderte Folgeprojekt „H2-Infra“. Dabei wurde die Breite der Forschung vergrößert. Nachdem es bei „HYPOS: H2-Netz“ um betriebliche Themen ging, steht jetzt die Endanwendung des Energieträgers Wasserstoff im Wärmebereich für Haushalte im Fokus. „Wir untersuchen die ganze Versorgungskette von der Übergabe bis zum Verbraucher. Inzwischen wurde die erste Forschungsphase eingeläutet. Wir haben eine Vielzahl an Anwendungstechnologen bei uns auf dem Testfeld vertreten, von den Haushaltsgeräten bis zur Komponententechnik. Dazu haben wir einen neuen Prüfstand für Mess- und Zähltechnik entwickelt. Untersucht werden gebrauchte Erdgastechnik und Neubauten,“ erläutert Schwert.
Dank der Realbedingungen sammelt MITNETZ GAS vielfältige praxisbezogene Erfahrungswerte bei Transport, Verteilung und Anwendung von Wasserstoff, die wissenschaftlich bewertet und weiterentwickelt werden. „So schaffen wir das Wissen und die Grundlagen, die für die Umstellung der bestehenden Gasinfrastruktur auf Wasserstoff dringend nötig sind“, erläutert Schwert. „Die gewonnenen Erkenntnisse helfen uns als Netzbetreiber, die Versuchslandkarte fortzuführen und die Wertschöpfungskette zur H2-readyness weiter zu schließen. Zudem setzen wir seit Mai 2022 bei dem Thema verstärkt auf praktische Bildung für Monteure und Ingenieure, um in der Zukunft Wasserstoffnetze sicher und zuverlässig zu betreiben.“
Mitteldeutschland ist prädestiniert für Aufbau einer Wasserstoff-Wirtschaft
Mitteldeutschland und damit im Wesentlichen die Netzgebiete von MITNETZ STROM und MITNETZ GAS sieht die Projektleiterin als prädestiniert für die Weiterentwicklung einer erfolgreichen Wasserstoff-Wirtschaft. „Es gibt zahlreiche Faktoren, die für den Standort hier sprechen: Wir haben ein gut ausgebautes Verteilnetz, relativ große Flächen für Industrieansiedlungen, nach wie vor ist viel Industrie im Aufbau – entweder durch Werkserweiterungen oder durch Neuansiedlungen –, die Chemieindustrie ist mit Standorten in Bitterfeld, Leuna und Böhlen gleich um die Ecke und wir haben große Mengen an Grünstrom zur Verfügung“, zählt sie auf.
„Die Kernaufgabe besteht darin, Strom- und Gasnetz zusammenzubringen“, konstatiert Geschäftsführer Sattur. „Denn die zur grünen H2-Produktion nötigen Elektrolyseure brauchen beides. Diesen Switch zwischen beiden Medien müssen wir schaffen. Gelingt es uns, die Dispatching – und Rückspeise-Maßnahmen drastisch zurückzufahren und stattdessen den Strom in grünen Wasserstoff umzuwandeln, haben wir einen großen Schritt getan.“